2020 und 2021, gleich zwei Jahre hintereinander ohne Oktoberfest – war doch kein Problem. Oder etwa doch? Unser Autor schrieb diesen Artikel letztes Jahr um die selbe Zeit. Erinnern wir uns mit ihm noch einmal daran, wie sehr wir die Wiesn vermisst haben, um uns heuer umso mehr darauf zu freuen!
Nein, man muss nicht zu den wahnhaften Wiesn-Fans gehören, um die Wiesn auch in diesem Jahr zu vermissen. Es ist damit vielleicht wie mit der Alpenkette am Horizont – auch wenn man nicht ständig in die Berge geht, ist es einfach gut zu wissen, dass sie da ist. Und genauso wichtig war es eben für den Münchner Biorhythmus, dass die Wiesn hier Jahr für Jahr das Ende des Sommers markiert. Oder eigentlich noch wichtiger – eine eigene, festliche Jahreszeit ausruft, mit unverkennbaren Eigenschaften.
Es ist eben wichtig für den Münchner Biorhythmus, dass die Wiesn hier Jahr für Jahr das Ende des Sommers markiert.
Dem meist pünktlich einsetzenden, stabilen Hochdruckgebiet etwa, mit seinem weiten Wittelsbacher Himmel, weiß bewölkt, aber dafür mit Zeppelin. Einer Luft, die immer ein wenig nach Zuckerwatte und Mandeln riecht, einem Wind, der an manchen Tagen die Schreckensschreie aus den Fahrgeschäften bis weit in die Stadt hineinträgt, und einer Abendkälte, bei der man nach der zweiten Maß draußen plötzlich froh über Opas Strickjacke ist, die man nur aus volkstümlichen Dekozwecken dabeihat.
Als Münchner oder Münchnerin hat man diese kleinen Begleiterscheinungen und Phänomene verinnerlicht – genau wie die Fähnchen an den Trambahnen, verirrte Wiesngäste in der beschaulichen Seitenstraße, weit weg von der Festwiese, oder den Anblick von Menschen, die noch ganz nüchtern morgens mit Laptop und Lederhosen in die Arbeit fahren und erst in achteinhalb Stunden die Hände zum Himmel recken werden. Herrgott, auch wenn man nicht hingeht – das Drumherum erzeugt eben doch eine ganz besondere Stimmung.
Es sind zwei Wochen, in denen man überall zwischen Laim und Bogenhausen das Gefühl hat: Unsere Stadt gibt der Welt ein Fest. Freilich, die Enge, das After-Wiesn-Gedöns, die diversen Überbleibsel am nächsten Morgen werden einem auch diesmal nicht fehlen. Aber so ist das eben, wer ein Fest gibt, bei dem bleiben die Flaschen liegen. Deswegen macht man es ja auch nur einmal im Jahr.
Nun wird schon zum zweiten Mal der September zu Ende gehen wie im Rest der Welt – als stiller Trampelpfad in den Herbst.
Und auch für die knallharten Wiesnverweigerer, die jetzt die Corona-Pause bejubeln, waren die zwei Wochen doch eigentlich wichtig. Als Grund, um noch mal einen schönen Herbsturlaub zu nehmen und die Stadt zu verlassen. Als Anlass vielleicht für ein paar wunderbare Bergtouren, weitab von feiernden Menschen. Als Signal, die Stadt nur auf dem Rad und auf anderen Wegen zu durchqueren, und schließlich für das befreite Aufatmen, wenn die letzte Maß getrunken und die Stadtreinigung final durchgefahren war – nun konnte endlich Ruhe einkehren. Auch in dieser Abgrenzung hatte das Fest also eine Funktion.
Nun wird schon zum zweiten Mal der September zu Ende gehen wie im Rest der Welt – als stiller Trampelpfad in den Herbst. Ohne Zeppelin, ohne Spuren von Zuckerwatte und Mandeln in der Luft, ohne dass man sich am letzten Wochenende noch mal eine Stunde auf die schon kalten Stufen unter der Bavaria setzt und sich das schöne, bewegte Gemälde eines surrealen Malers betrachtet.
Das ist ja auch so eine Sache – man kann die Wiesn mögen, ohne etwas mit den Massen im Bierzelt oder der Schlange vor der Achterbahn gemein zu haben. Viele Einheimische haben mit den Jahren ihre kleinen Rituale entwickelt, um sich nur die benötigte Dosis Oktoberfest abzuholen: ein ruhiges Vormittagshendl, eine einzige Krinolinenfahrt, einmal mit der Oma und Magenbrot über die Festwiese bummeln oder natürlich über die Oide Wiesn, die ja doch den einen oder anderen Gedrängegegner wieder versöhnt hat. Und diese kleinen Rituale sind es vielleicht auch, die einem dieses Jahr am meisten fehlen werden. Denn das Hendl und die Fischsemmel schmecken nun mal nirgendwo so wie hier, sie brauchen diese Kulisse zur vollen Geschmacksentfaltung.
Lässt sich der Pause auch etwas Gutes abgewinnen? Freilich, die Theresienwiese erhält die einmalige Chance zur Renaturierung. Der Bierpreis stagniert. Es wird wieder ein ruhiger Herbst werden – und die nächste Wiesn umso schöner.