München lässt sich auf viele Arten kennenlernen: Man kann seine Museen und Kirchen besuchen, an Führungen teilnehmen, mit den Einheimischen plaudern, Bücher zur Stadtgeschichte wälzen oder mit dem Fahrrad alle Viertel abfahren. Doch egal, wie ambitioniert oder entspannt das Programm, eines sollte man auf keinen Fall verpassen: das Essen.
Was wäre München ohne seine urigen Wirtshäuser, deren dunkle Holzvertäfelungen über die Jahrhunderte gewachsene Gemütlichkeit ausstrahlen? Und was wäre München ohne seine Biergärten, in denen die Blätter der Kastanien tanzende Schatten werfen und das Kondenswasser der Maßkrüge das bayerische Lebensgefühl auf die Tische zirkelt? Ohne seine wuseligen Märkte, seine spektakulären Sternerestaurants und seine authentischen „Italiener“? Wer das Wesen Münchens ergründen möchte, findet es auf dem Boden eines blank geputzten Tellers. Es lohnt sich also, den Stadtplan regelmäßig gegen eine Speisekarte zu tauschen.
Für einen Crashkurs in Sachen Münchner Esskultur begibt man sich am besten direkt ins kulinarische Herz der Stadt: auf den Viktualienmarkt. Mitten in der Altstadt gelegen, ist er einer von vier ständigen Märkten Münchens, bereits seit 1807 werden hier Lebensmittel verkauft. Der einfache Bauernmarkt von einst hat sich mit der Zeit in eine Destination für Gourmets verwandelt, heute findet man an den rund 100 Ständen alles, was man für kleine oder große Genussmomente benötigt. Viele Stände bieten Essen zum direkten Verzehr an, sodass man sich hier wunderbar durch bayerische To-go-Klassiker wie Leberkassemmel oder Auszogne probieren kann.
Nach wie vor ist der Viktualienmarkt aber hauptsächlich zum Einkaufen da: Fisch, Fleisch, Obst, Gemüse, Käse, Feinkost – hier findet man alles, was der Bauch begehrt. Und zwar in Spitzenqualität. Denn dass man hier die feinste Ware der Stadt verkauft, gehört zum stolzen Selbstverständnis aller, die hier hinter den Ständen stehen. Dafür hat man über die Jahre ein feines Netzwerk von regionalen Lieferanten kultiviert. So ist hier etwa der junge Kräuterbauer Daniel Kufner bekannt wie ein bunter Hund, dabei besitzt er gar keinen eigenen Stand.
Wer das Wesen Münchens ergründen möchte, findet es auf dem Boden eines blank geputzten Tellers. Es lohnt sich also, den Stadtplan regelmäßig gegen eine Speisekarte zu tauschen.
Mit seiner Gärtnerei im Norden Münchens beliefert er viele Gemüse- und Feinkoststände auf dem Viktualienmarkt mit unzähligen Kräutersorten, ausgewählten Wildkräutersalaten und diversem Gemüse. Fisch Witte, bereits seit 1985 auf dem Viktualienmarkt, betreibt im Norden von München eigene Fischteiche. Der Stand der Münchner Käse Manufaktur bekommt seine Milch von 50 Biokühen aus Grafing bei München, und das Bauernkrustenbrot bei der Bäckerliesl stammt von der Brotmanufaktur Schmidt, die ihr Mehl wiederum von der Weissmühle in Bruckmühl bezieht.
Wer das Treiben auf dem Viktualienmarkt eine Weile beobachtet, wird zudem Zeuge einer noch kleinteiligeren Regionalität: Immer wieder verlassen Marktleute ihren Stand, um bei den Nachbarn vorbeizuschauen – so gut wie nie mit leeren Händen. Auf diese Weise entsteht ein reger Tauschhandel: Cappuccino gegen belegte Semmel, ein paar frische Salatköpfe gegen ein Stück Bergkäse, Kombucha gegen Marmorkuchen – man kennt, schätzt und unterstützt sich.
Am jungen Kartoffelstand Caspar Plautz zeigt sich exemplarisch, was in diesem Schlemmer-Mikrokosmos dann alles entsteht: Für die wöchentlich wechselnden Kartoffelgerichte lässt man sich von den Produkten inspirieren, die saisonal und regional verfügbar sind – etwa beim Biogemüsestand Trübenecker direkt gegenüber. Auf die Teller kommt dann zum Beispiel ein Bioschweinebraten mit Sriracha-Mayonnaise, Koriander, Chili, süß-sauer eingelegtem Rhabarber und Lauchgemüse in hauseigener Hoisinsauce. Dass man hier ausgezeichnet isst, hat sich längst herumgesprochen, selbst einige Sterneköchinnen und -köche schauen hier regelmäßig vorbei.
Die kulinarische Entdeckungsreise auf dem Viktualienmarkt zu beginnen, hat noch einen weiteren Vorteil: Man kann hier gleich die nächste urbayerische Tradition kennenlernen, den Biergarten. Ein besonders schöner befindet sich nämlich in der Mitte des Marktes, damit ist er auch der zentralste Biergarten der Stadt. Wie es nach altem Brauch üblich ist, darf man hier seine eigene Brotzeit mitbringen, nur die Getränke muss man beim Wirt kaufen. Viele Gäste entscheiden sich für ein frisch gezapftes Helles, von welcher Brauerei dieses kommt, ändert sich in etwa alle sechs Wochen.
Denn anders als üblich gehört der Biergarten auf dem Viktualienmarkt keiner Brauerei, weshalb sich die großen Münchner Brauereien mit dem Ausschank abwechseln. Dass es schmecken wird, ist jedoch sicher, das Münchner Bier ist auf der ganzen Welt für seine Qualität berühmt. Hergestellt wird es ausschließlich von sieben Brauereien, die Bezeichnung ist streng geschützt – und es muss innerhalb der Stadtgrenzen gebraut werden. Das Münchner Reinheitsgebot von 1487 bestimmt zudem, dass es lediglich aus Wasser, Hefe, Malz und Hopfen bestehen darf, letzterer stammt in der Regel aus der malerischen Hallertau im Herzen Bayerns, dem größten zusammenhängenden Hopfenanbaugebiet der Welt.
Und was wäre München ohne seine Biergärten, in denen die Blätter der Kastanien tanzende Schatten werfen und das Kondenswasser der Maßkrüge das bayerische Lebensgefühl auf die Tische zirkelt?
Apropos Brauereien: Die betreiben nicht nur die meisten Biergärten der Stadt, sondern auch viele der beliebten Wirtshäuser. Und auch die gehören zum Münchner Lebensgefühl wie die Dunkelbiersauce zum Schweinebraten. In der Altstadt ist die Dichte der Wirtshäuser besonders hoch, und so überrascht es auch nicht, dass man hier einige der ältesten und traditionsreichsten findet.
Berühmt ist zum Beispiel das Weisse Bräuhaus im Tal, wo nicht nur die bekannten Klassiker der bayerischen Küche serviert werden, sondern wo man auch noch die Kunst der bayerischen Kronfleischküche beherrscht. Die stammt aus einer Zeit, in der ein nachhaltiger und respektvoller Umgang mit dem Tier noch völlig selbstverständlich war. Oder anders ausgedrückt: aus einer Zeit, in der man noch keinen Überfluss kannte und geschlachtete Tiere in Gänze verarbeitete, Innereien inklusive. Richtig zubereitet werden sie zu einer Delikatesse. Wer nun aber denkt, dass sich die Münchner Wirtshäuser ausschließlich über ihre jahrhundertealten Traditionen definieren, irrt.
Was wäre München ohne seine urigen Wirtshäuser, deren dunkle Holzvertäfelungen über die Jahrhunderte gewachsene Gemütlichkeit ausstrahlen?
In immer mehr Münchner Wirtshäusern steht die nächste Wirtsgeneration an Herd oder Zapfhahn – und geht neue Wege. Ob es der Klinglwirt von Sonja Obermeier ist, der bayerische Gerichte vegetarisch und vegan neu interpretiert und ausschließlich Biofleisch der Herrmannsdorfer Landwerkstätten verwendet, das Xaver's, das von drei jungen Geschwistern gegründet wurde und mit regionalen und biologischen Zutaten eine behutsame Modernisierung der alpenländischen Küche angestoßen hat, oder das Bodhi, das es vollbringt, ein vollständig veganes Wirtshaus zu sein, obwohl auf der Karte Schnitzel, Rouladen und Käsespätzle stehen: Sie alle zeigen, dass die bayerische Küche auch leicht, nachhaltig und modern daherkommen kann.
Die Wiederentdeckung von Saisonalität und Regionalität lässt sich nicht nur in der bodenständigen Wirtshausküche beobachten, auch in der Münchner Haute Cuisine findet sie statt. Um zu begreifen, wie tiefgreifend dieser Wandel in der Tat ist, muss man zunächst die Ursprünge der Münchner Spitzengastronomie betrachten: Die liegen in den 1970er-Jahren, damals erfüllte sich der Bauunternehmer Fritz Eichbauer mit dem Tantris seinen Traum vom eigenen Gourmetrestaurant nach französischem Vorbild.
Den Kochlöffel schwang Eckart Witzigmann, er holte innerhalb von drei Jahren zwei Michelin-Sterne für das Restaurant, seinerzeit die höchste in Deutschland vergebene Auszeichnung. Das Tantris gilt seitdem als Wiege der deutschen Sternegastronomie. Um die höchste Qualität zu garantieren, ließ Witzigmann viele Zutaten jeden Tag frisch aus Paris kommen.
Nicht alles, was nach Japan schmeckt, muss um den halben Globus geflogen werden.
Mit seiner Liebe zu Gemüse inspirierte er unter anderem seinen Souschef Daniel Bodamer, der 2022 als Küchenchef im Brothers übernahm und innerhalb von nur vier Monaten mit einem Michelin-Stern ausgezeichnet wurde – unter anderem für seinen kreativen Umgang mit Gemüse.
Mit exquisiten Zutaten aus aller Welt wird auch heute noch gearbeitet – derweil ist das Tantris durch die jahrzehntelang währende Exzellenz noch selbstbewusster und damit stilprägend geworden. Der heutige Küchenchef Benjamin Chmura, in Brüssel aufgewachsener gebürtiger Kanadier mit deutscher Mutter, hat für seine Menüs regionale Zutaten wie Meerrettich wiederentdeckt.
Dass man mit der neuen grün-regionalen Küche nicht auf dem Holzweg ist, zeigt sich auch jedes Jahr im Frühjahr, wenn der Guide Michelin seine Auszeichnungen vergibt. Denn die Zahl der Restaurants, die Jahr für Jahr mit Bestnoten abschneiden, wächst kontinuierlich.
So erhielt Joshua Leise vom Mural Restaurant nicht nur einen Stern, sondern obendrauf noch einen grünen Stern vom Guide Michelin. Die Doppelauszeichnung wurde insbesondere für den Ansatz verliehen, sorgfältig ausgewählte regionale Produkte zu überraschenden Geschmackserlebnissen zu verarbeiten.
Der Gastronom und München-Botschafter Wolfgang Hingerl, der hinter dem Mural steckt und eine ganze Reihe von weiteren spannenden und hochkarätigen Restaurants betreibt, setzt konzeptionell auf radikale Regionalität – und hat auf diese Weise ein Netzwerk von lokalen Produzenten geschaffen, das den Erfolg seiner Betriebe erst möglich macht.
Ähnliches lässt sich auch bei Tohru Nakamura beobachten, der für sein Restaurant Tohru zwei Sterne bekam, und unter anderem auf die Produkte der Fischwirtin Lea Birnbaum setzt, die in 25 Naturteichen in Epfenhausen bei Landsberg 15 verschiedene Arten Süßwasserfisch züchtet. Dreimal so lange wie herkömmliche Zuchtfische leben hier die Forellen, Störe und Huchen – Nakamura kredenzt daraus Gerichte wie Seeforelle in Sansho gebeizt mit Schlangengurken, Yuzu und Kapuzinerkresse. Er sagt: „Nicht alles, was nach Japan schmeckt, muss um den halben Globus geflogen werden.“
Aber findet der Wandel auch im Alltäglichen statt? Um das herauszufinden, muss man wissen, was die Menschen in München Tag für Tag essen – und hier warten ein paar Überraschungen: zum einen, weil sich München gerne als „nördlichste Stadt Italiens“ bezeichnet, und das nur halb im Scherz. Seit dem Gastarbeiterabkommen in den 1950er-Jahren war München der erste Ankunftsort für Züge aus Italien, heute leben knapp 30.000 Italienerinnen und Italiener in der Stadt, die Zahl der italienischen Restaurants wird auf 400 bis 500 geschätzt. Ob Napoletana, Romana oder Pinsa: In München wird mit ähnlicher Vehemenz über die perfekte Pizza gestritten wie südlich der Alpen, und ein Großteil der Münchner Eisdielen stellt wie selbstverständlich eigenes italienisches Gelato her.
Die andere Überraschung: In keiner anderen deutschen Millionenstadt leben so viele Menschen mit Migrationshintergrund wie in München.
Studentische Viertel wie die Maxvorstadt beleben das gastronomische Angebot der Stadt mit einer breiten Auswahl internationaler Restaurants: Handgezogene chinesische Nudeln, äthiopische Sauerteig-Fladenbrote, israelische Meze oder koreanisches Bibimbap – hier kommt die weite Welt auf die Teller.
In München wird mit ähnlicher Vehemenz über die perfekte Pizza gestritten wie südlich der Alpen, und ein Großteil der Münchner Eisdielen stellt wie selbstverständlich eigenes italienisches Gelato her.
Und selbstverständlich wird dabei berücksichtigt, wie kosmopolitische Genuss-Fans von heute speisen: eher gemüsebetont, wenn Fleisch, dann bewusst, und alles mit einer starken Verankerung im Regionalen. Gegessen wie echte Einheimische hat man also dann, wenn sich am Ende des Tages eine vegane Miso-Schwammerl-Suppe zu Pinsa und Weißwürsten gesellt. Wie eine wilde Mischung klingt das nur so lange, bis man es selbst probiert hat. In diesem Sinne: buon appetito, afiyet olsun und an Guadn!