Zu Beginn des 17. Jahrhunderts war kein Maler so modern wie Michelangelo Merisi da Caravaggio. Vor allem sein Umgang mit Licht und Schatten war radikal und neu. Er wurde zum Vorbild vieler junger Maler aus Europa. Zu den bedeutendsten unter ihnen gehörten Gerard van Honthorst, Hendrick ter Brugghen und Dirck van Baburen aus Utrecht. Sie setzen den Schwerpunkt einer einzigartigen Ausstellung in der Alten Pinakothek. Hier erzählt Kurator Bernd Ebert, was sie so besonders macht.
Herr Ebert, heute sind alle Bilder der Welt nur einen Mausklick entfernt. Im 17. Jahrhundert war es ungleich schwieriger, aktuelle Kunst zu betrachten. Wie kamen die Utrechter Caravaggisten das erste Mal mit Caravaggio in Berührung?
Zum Abschluss ihrer Ausbildung reisten junge Maler aus ganz Europa nach Rom. Jedenfalls jene, die es sich leisten konnten. Bei Honthorst, ter Brugghen und Baburen war das offensichtlich der Fall. Dort studierten sie die Werke der Antike, die Malerei der Renaissance und eben den modernsten Maler ihrer Zeit, Caravaggio.
Was machte ihn so modern?
Er bestach vor allem durch seinen Naturalismus. Er wollte die Welt und Menschen scheinbar so zeigen, wie sie sind. Für einen italienischen Maler war das ungewöhnlich, denn dort galt zu dieser Zeit noch das Gebot, die Motive nach ihrer Schönheit zu wählen, sie zu idealisieren. Caravaggio brach damit. Er inszenierte seine Bilder oft mit gewöhnlichen Leuten von der Straße. Die männlichen und weiblichen Heiligen hatten dadurch das Aussehen von Menschen, denen man damals auch im römischen Alltag begegnete.
„Caravaggio hatte die Hell-Dunkel-Malerei, das Chiaroscuro, nicht erfunden, doch er war einen Schritt weiter gegangen, indem er die Schatten und den dunklen Hintergrund in eine Finsternis verwandelte. Dadurch entstanden unglaublich starke Kontraste.“
Er holte sich diese Modelle in sein Atelier?
Genau. Und nicht nur er. Caravaggisten wie Orazio Gentileschi oder Jusepe de Ribera machten es auch so. Es gibt eine Figur, die in ihren Bildern immer wieder auftaucht. Offensichtlich ein Arbeiter aus Rom, der ihnen wiederholt Modell stand. Caravaggio bekam aber durch diese Methode auch Probleme. Es gibt zum Beispiel ein Altarbild von ihm, das die tote Jungfrau Maria zeigt und heute im Louvre hängt. Gemalt hatte es Caravaggio aber für die Kirche der Karmeliten Santa Maria della Scala in Trastevere. Sie lehnten das Bild ab, weil das Modell für die Maria eine stadtbekannte Prostituierte war.
Zurück zu den Utrechtern. Ein Teil ihrer Ausbildung bestand ja auch darin, große Maler zu kopieren und von ihnen zu lernen.
Durch das Kopieren lernten sie, wie ihre großen Vorbilder Werke komponierten. Das war die Grundlage, von der aus sie ihre eigenen Ideen entwickelten. Eines der ersten Bilder, die etwa Honthorst in Rom sah, war Caravaggios „Die Kreuzigung Petri“ in der Kirche Santa Maria del Popolo. Das Bild hat er abgezeichnet und eine eigene Version des Motivs hergestellt. Er hat Caravaggios Komposition zwar übernommen, aber auch Änderungen vorgenommen. Honthorst verdeckt zum Beispiel eines der Kreuzenden nicht mit einem Tuch wie sein Vorbild, sondern er zeigt den puren Nagel, wie er durch die Hand ins Holz getrieben wurde, um die Brutalität und die Kraft des Einschlagens darzustellen. Die Utrechter waren insgesamt roher, sie zeigten verfaulte Zähne und dreckige Füße. Den Schmutz des Alltags.
Die Utrechter Caravaggisten entwickelten also Caravaggios Naturalismus weiter.
Ja, und das kam ihnen entgegen, denn in den Niederlanden gab es schon damals eine Tradition der naturgetreuen Darstellung. Sehr beeindruckt waren sie natürlich auch von Caravaggios Umgang mit Licht und Schatten, für den er ja bekannt war. Er hatte die Hell-Dunkel-Malerei, das Chiaroscuro, nicht erfunden, doch er war einen Schritt weiter gegangen, indem er die Schatten und den dunklen Hintergrund in eine Finsternis verwandelte. Dadurch entstanden unglaublich starke Kontraste. Bei Da Vinci, der auch sehr stark mit Licht und Schatten spielte, waren die Übergänge zwischen beiden noch nebulös und verschwommen gewesen. Bei Caravaggio sind sie scharf. Dadurch steigert er die Räumlichkeit der Figuren, sie treten in den Vordergrund, ihre Gefühlsausdrücke verstärken sich. Caravaggio wählte fast immer den gleichen Lichteinfall, um diesen Effekt zu erzielen. Das Licht dringt von links oben ins Bild und beleuchtet Figuren und Gegenstände gleichmäßig. Die Utrechter übernahmen zwar die harten Kontraste Caravaggios, setzten das Licht aber anders ein.
Wie?
Honthorst setzte die Lichtquelle direkt ins Bild. Kerzen oder Fackeln. Man sieht das bei dem Bild „Fröhliche Gesellschaft“ ganz gut. Die Kerze ist verdeckt, ihr Schein beleuchtet die für die Erzählung zentrale Figur im Bild. Es ist die Kupplerin. Das Licht betont ihr Gesicht, ihren geöffneten Mund mit den verfaulten Zähnen und ihren turbanähnlichen Kopfschmuck. Dadurch konnte sie der zeitgenössische Betrachter eindeutig identifizieren. Sie ist die Frau, die die leichten Mädchen mit den Männern verbindet. Indem Honthorst die Lichtquelle ins Bild setzt, hat er die Möglichkeit, Schlaglichter zu setzen, seine Erzählung zu pointieren, die Dramatik des Bildes zu erhöhen.
Man sieht sogar, wie sich die Flamme im Glas des Gastes bricht.
Ja, und das ist ein weiteres interessantes Detail, denn man erkennt daran, welchen Einfluss die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Zeit auf die Malerei hatten. In dieser Zeit wurden viele optische Hilfsmittel erfunden, das Fernrohr etwa oder das Mikroskop. Die Auftraggeber der Maler wollten, dass diese Neuerungen in irgendeiner Form im Bild auftauchen. Und deswegen steht die im Schnapsglas gebrochene Kerzenflamme auch optisch präzise und physikalisch richtig auf dem Kopf.
Haben die Utrechter auch darauf geachtet, wie sich das Licht realistisch im Raum verteilt?
Man muss dazu wissen, dass natürlich jedes ihrer Bilder, so naturgetreu es erscheinen mag, inszeniert war. Das gilt auch für die Lichtstimmung. Und trotzdem haben die Utrechter sich mit dem optischen Phänomen der Lichtausbreitung beschäftigt und es in ihren Bildern aufgenommen. Ein schönes Beispiel ist wiederum ein Bild von Honthorst, und zwar „Christus vor dem Hohepriester“, aus der National Gallery in London, das als Leihgabe in der Ausstellung zu sehen sein wird. In diesem Hochformat kann man wunderbar sehen, wie sich das Licht der einzigen Lichtquelle, einer Kerze, in den ganzen Raum bis in den Hintergrund ausweitet. Dort sind die Figuren nur noch verschwommen wahrnehmbar. So etwas hat Caravaggio noch nicht gemacht. Allerdings muss man dazu sagen, dass Honthorst hier extremer als Baburen und ter Brugghen vorging. Sie setzten zwar auch manchmal die Lichtquelle ins Bild, ihre Lichtgebung war aber gleichförmiger, mehr wie bei Caravaggio.
Nun sind viele Bilder von Caravaggio und den Caravaggisten für Kirchen und Kapellen gemalt worden, wo eine dunkle Lichtstimmung herrscht. Nehmen Sie darauf in der Ausstellung Bezug?
Caravaggio und seine Nachfolger haben sicher Rücksicht auf die Bedingungen in den Gotteshäusern genommen, wo es ja nur Kerzenbeleuchtung und ein wenig Tageslicht gab. Die starken Kontraste ihrer Malerei und die kräftigen Farben zeugen davon. Es galt, die Besucher emotional mitzunehmen und ihnen die Glaubensgeschichte näherzubringen. Die sakrale Lichtstimmung von damals können wir nicht imitieren, weil wir keine Kerzen aufstellen dürfen, das wäre zu gefährlich. Wir arbeiten bei dieser Ausstellung mit Spots. Sie werden bestimmte Elemente dieser meist großformatigen Bilder betonen. Damit treffen wir natürlich Aussagen, wir interpretieren, weil wir den Blick der Besucherinnen und Besucher lenken, etwa auf die Lichtstimmung des Bildes oder auf das, was uns besonders wichtig erscheint. Aber in den letzten zwanzig Jahren hat sich die Beleuchtung von Ausstellungen ohnehin ziemlich verändert.
„Die caravaggeske Bildinszenierung hatte auch immer Einfluss auf Fotografie und Film und wird bis heute an Filmhochschulen behandelt.“
Inwiefern?
Früher war das Licht wärmer, gelblicher. Heute bevorzugt man eher bläuliches Licht, das dem Tageslicht ähnlicher ist. Diese Veränderung kann man auch bei Autoscheinwerfern beobachten, die bei den neuen Modellen viel kühler sind. In unserer ständigen Sammlung haben wir den Luxus, nach der Sanierung durch Oberlichter mit natürlichem Licht zu arbeiten. Das ist natürlich das Beste, weil es neutrales Licht ist, und wir mit der Beleuchtung nicht interpretieren, sondern dem Betrachter einen freien Zugang zum Bild ermöglichen. Bei Sonderausstellungen wie „Utrecht, Caravaggio und Europa“ setzen wir auf die Inszenierung mit künstlichem Licht, genau wie Honthorst es tat.
Welchen Einfluss hatte eigentlich der Umgang der Utrechter Caravaggisten auf die Künstler, die ihnen folgten?
Schon Rembrandt, der in den 1620er-Jahren mit Jan Lievens noch eine Malwerkstatt in Leiden betrieb, übernahm Dinge von den Caravaggisten. Lievens und er waren eher Stubenhocker, sie reisten nicht nach Rom, und doch übernahmen sie Caravaggios italienisches Licht. Sie lernten es über die Bilder der Utrechter kennen und über Caravaggios „Rosenkranzmadonna“, die sich im Privatbesitz des Malers Louis Finson befand und später in der Antwerpener Kirche St. Paul hing.
Wo findet man noch Stilelemente der Caravaggisten?
In der niederländischen Malerei war ihr Einfluss insgesamt sehr groß. Bis hin zu Vermeer. Ein Beispiel ist dessen Bild „Bei der Kupplerin“, das Teil der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden ist. Es erinnert in Motivwahl und Lichtstimmung an die Utrechter. Aber ihr Atem reicht bis heute. Die caravaggeske Bildinszenierung hatte auch immer Einfluss auf Fotografie und Film und wird bis heute an Filmhochschulen behandelt. In unserem Rahmenprogramm kann man darüber mehr erfahren. Wir zeigen fünf Kinofilme, eine Mischung von Klassikern wie Murnaus „Nosferatu“ oder Hitchcocks „Psycho“ bis zu Sorrentinos kürzlichem Kulthit „La Grande Bellezza“ oder Paul Verhoevens rarem „Der vierte Mann“, jeweils gekoppelt mit einem aktuellen kurzen Künstlerfilm. Der Einfluss der Caravaggisten auf die Kunst war und ist groß, nicht nur von den Utrechtern, es waren ja noch viel mehr aus ganz Europa. Und 17 der besten von ihnen zeigen wir in unserer Ausstellung.
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