In München begann Adolf Hitlers Weg an die Macht. Gleichzeitig führte er hier ein ganz normales Leben. Aber ist es okay, sich für private Anekdoten eines Tyrannen zu interessieren? Als offizieller Guide der Stadt München bietet Grit Ranft regelmäßig Stadtführungen zum Thema an. Im Interview erklärt sie, worauf es ihr dabei vor allem ankommt.
Frau Ranft, wenn ich mit Gästen am Restaurant Osteria Italiana in der Schellingstraße vorbeilaufe, erwähne ich oft, dass dort früher Adolf Hitler gegessen hat. Ist das eigentlich in Ordnung?
Klar, warum nicht?
Weil ich Hitler in dem Moment behandele wie einen x-beliebigen Prominenten. In einem ähnlichen Tonfall könnte ich sagen: „In diesem Biergarten sitzt übrigens häufig Gotthilf Fischer.“
Das mag sein. Aber ich sehe darin eher eine Chance. München ist nun mal die Stadt, in der Hitler lange gelebt hat und in der sein Aufstieg stattfand. Entsprechend gibt es noch heute viele Orte, an denen auch Hitler schon verkehrte. Anekdoten wie die vom italienischen Restaurant können ein guter Einstieg sein, um auf diese spezielle Vergangenheit der Stadt aufmerksam zu machen. Wer weiß: Vielleicht informieren sich Ihre Besucher ja anschließend etwas mehr über die Geschichte Münchens in der Zeit des Nationalsozialismus.
Aber bedient man mit solchen Details aus Hitlers Privatleben nicht auch eine unangemessene Sensationslust?
Deswegen würde ich solche Anekdoten nie ohne Zusammenhang stehen lassen. Auf meiner Tour auf den Spuren des Nationalsozialismus in München kommen wir an einem Haus am Karolinenplatz vorbei, in dem Hitler früher oft bei einem wohlhabenden Ehepaar zum Kuchenessen eingeladen war. Als Detail finde ich das nicht erwähnenswert. Im Kontext aber sehr wohl.
Warum?
Als Hitler 1913 aus Österreich nach München kam, war er ein regelrechter Tölpel ohne Umgangsformen. Die lernte er unter anderem bei Treffen in ebendieser Wohnung des Verlegers Hugo Bruckmann. Ohne diese Einführung in höhere Gesellschaftskreise wäre seine Karriere vielleicht nicht möglich gewesen. Die Unternehmerfamilien wiederum setzten auf ihn, um aufstrebende kommunistische Kräfte zu stoppen. Insofern erzählen die Kuchenkränzchen viel darüber, wie Hitlers Aufstieg in München überhaupt möglich war.
Erzählen Sie auf Ihren Touren viele solche Details?
Nein, aber wenn ich sie einsetze, dann ganz bewusst. Wenn wir zum Beispiel am Anfang der Tour im Alten Hof in der Altstadt stehen, zeige ich oft eine historische Postkarte mit einem Bild des Innenhofes, wie er damals noch aussah, und lasse die Gäste raten, wer es gezeichnet hat. Nachdem alle irgendwelche Künstlernamen durcheinandergerufen haben, verrate ich die Antwort: „Adolf Hitler“. Da ist das Staunen oft groß, und die Aufmerksamkeit der Gäste ist mir sicher.
„Auf meinen ersten Touren habe ich gemerkt, dass die Menschen lachen, wenn sie den Namen ‚Drückebergergasse‘ hören – das hat mich sehr gestört."
Sie nutzen den Überraschungseffekt.
Ja, genau. Sehen Sie, die Touren dauern zwei bis drei Stunden, das ist eine lange Zeit, die ich so interessant wie möglich gestalten will. Natürlich ist es immer eine Abwägung: Darf ich triviale Details über Hitler nutzen, um die Aufmerksamkeit der Gäste zu gewinnen? Im Fall der Postkarte finde ich es in Ordnung. Nach dem Raten erkläre ich den Zusammenhang: Als Hitler nach München kam, stand er vor dem Nichts. Um sich über Wasser zu halten, verkaufte er selbst gezeichnete Postkarten in den großen Bierkellern. In meiner Tour geht es dann darum, welche Faktoren dazu beigetragen haben, dass ein derartiger Verlierertyp einen solchen Siegeszug mit solch katastrophalen Folgen antreten konnte.
Darf man über Hitler lachen?
Auch das sehe ich nicht so streng, und auf meinen Touren durch die Innenstadt wird zwischendurch auch mal gelacht – vielleicht nicht unbedingt über die Person Hitler an sich. Andererseits käme ich nie auf die Idee, während einer Tour durch das ehemalige Konzentrationslager in Dachau einen Lacher zu provozieren. Und auch in München finde ich es in gewissen Situationen nicht in Ordnung, wenn geschmunzelt wird.
Wann stört es Sie?
Meine Route führt meistens an der Viscardigasse hinter der Feldherrnhalle vorbei. Im Dritten Reich bogen Menschen hier ab, um den verpflichtenden Hitlergruß an einem Ehrenmal zu umgehen, weswegen sie auch heute noch umgangssprachlich „Drückebergergasse“ genannt wird. Auf meinen ersten Touren habe ich gemerkt, dass die Menschen lachen, wenn sie diesen Namen hören – das hat mich sehr gestört.
Wie haben Sie reagiert?
Inzwischen erzähle ich sehr anschaulich, welches Risiko diese Entscheidung für den Einzelnen wirklich bedeutete. Wer von der Gestapo dabei erwischt wurde, dass er den Hitlergruß vermied, indem er diese Gasse wählte, musste mit einer Verhaftung rechnen. So verstehen meine Gäste, dass diese Menschen keine harmlosen Drückeberger waren, sondern extrem mutige Bürger. Überhaupt stelle ich fest, dass vor allem meine jungen Gäste stark auf Geschichten einzelner Menschen reagieren.
„Ich möchte vermitteln, wie wichtig es auch heute für Demokratien ist, frühzeitig Widerstand gegen den Aufstieg von Tyrannen zu leisten."
Inwiefern?
Wenn ich Schulklassen durch München führe, zeige ich ihnen oft den Walter-Klingenbeck-Weg neben der Staatsbibliothek. Er ist benannt nach einem Jugendlichen, der 1941 einem Aufruf der BBC folgte und in München Victoryzeichen an Häuser malte, um die bevorstehende Ankunft der Alliierten anzukündigen. Leichtsinnigerweise erzählte Klingenbeck seiner Chefin von der Aktion, die ihn denunzierte, was zu seiner Festnahme und Hinrichtung führte. Wenn die Schüler dieses Schicksal eines Gleichaltrigen hören, geht ihnen das besonders nahe. Solche Geschichten weiterzugeben, ist mir auch ein persönliches Anliegen.
Warum?
Ich erinnere mich noch daran, wie mir meine Großeltern vom Krieg erzählt haben, auch wenn sie nicht besonders gerne mit mir über die Zeit des Nationalsozialismus redeten. Es gibt nicht mehr viele Zeitzeugen, und Jugendlichen heute fehlt dieser direkte Bezug oft, weil die Großeltern schon aus der Nachkriegsgeneration stammen. Doch wenn sie in München zum Beispiel auf dem Königsplatz stehen und ich ihnen Fotos von Naziaufmärschen dort zeige, verstehen sie, wie nah diese Zeit immer noch ist. Das meine ich, wenn ich von einer Chance spreche, die in den erhaltenen Schauplätzen des Dritten Reichs in München liegt.
Was wünschen Sie sich, was die Teilnehmer von der Führung mitnehmen?
Ich hoffe, dass sie danach die geschichtlichen Fakten noch besser einordnen können und verstehen, wie die Stadt München Hitlers Machtergreifung ermöglichte. Gleichzeitig möchte ich vermitteln, wie wichtig es auch heute für Demokratien ist, frühzeitig Widerstand gegen den Aufstieg von Tyrannen zu leisten.
Wie beenden Sie Ihre Touren?
Immer mit einem Lichtblick. Nach der Station am Königsplatz gehen wir oft weiter zum Lenbachhaus mit seiner weltweit einzigartigen Sammlung zur Kunst des „Blauen Reiters“. Während der Nazizeit galten die Bilder als „entartete Kunst“ und ihre Ausstellung wurde verboten. Heute hängen diese wunderschönen Werke wieder im Museum und ziehen Besucher aus der ganzen Welt an. Ich finde, das ist ein gutes Ende.
Über Grit Ranft: Grit Ranft hat sich 2014 einen Traum erfüllt und eine Ausbildung zur offiziellen Gästeführerin der Landeshauptstadt München gemacht. Seither freut sie sich immer wieder aufs Neue darüber, ihre Leidenschaft für München an Gäste weitergeben zu dürfen. Mehr über Grit Ranft und ihre Touren erfahren Sie hier.
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