Die Sammlung Brandhorst hat den größten Werkbestand von Andy Warhol außerhalb der USA. In der Ausstellung „Forever Young“ kann man sich davon überzeugen, wie wichtig der Künstler ist – bis heute.
Andy Warhol ist heute allgegenwärtig. Seine Suppendosen hängen gleichermaßen in WG-Küchen wie in solchen von Einfamilien-Eigenheimen, Warhol-Prints werden in jedem Postershop und bei Ikea verkauft. Seine Bonmots, wie jenes, dass heute jeder für fünfzehn Minuten berühmt sein könne, werden täglich zitiert. Und natürlich liebt Kim Kardashian Warhol. Bei so viel Präsenz kann eine gewisse Ermüdung nicht ausbleiben. Kann Warhol heute überhaupt noch überraschen? Das ist die Frage, mit der sich das Museum Brandhorst auseinandersetzen musste. Es hält den größten Werkbestand von Warhol-Arbeiten außerhalb den USA. Warhol ist auch der Künstler, der mit 43 Arbeiten am meisten in der aktuellen Ausstellung „Forever Young“ vertreten ist, mit der das Haus sein zehnjähriges Bestehen feiert. Insgesamt werden darin 46 Künstlerinnen und Künstler gezeigt.
Patrizia Dander ist leitende Kuratorin im Museum Brandhorst und konzipierte die Jubiläumsausstellung maßgeblich. Wie sieht sie nach dieser intensiven Auseinandersetzung den omnipräsenten Künstler? „Natürlich ist er der bekannteste Künstler in unserer Sammlung und vermutlich auch einer der bekanntesten des 20. Jahrhunderts. Aber es geht nicht nur um Popularität. Ganz viel von dem, was heute in der Kunst verhandelt wird, beginnt mit Warhol. Und nicht zuletzt nahm er etliche Debatten der Gegenwart vorweg“, sagt Dander. Das Tentakel Warhol – es steckt bis heute einfach überall drin. Seine künstlerische Bedeutung wird in der Ausstellung „Forever Young“ imposant vorgeführt. Seine Arbeiten, die sich mit Queerness, Rassismus oder dem Kapitalismus beschäftigen, sind bis heute hochaktuell.
Nackte Körper sind heute allgegenwärtig – zumindest offensichtlich heterosexuelle. Die LGBT-Szene muss immer noch auf die Straße gehen, um für ihre Sexualität zu kämpfen. Derartiges Engagement wird oft mit dem Titel „identity politics“ belegt. Gemeint ist damit, dass das eigene Dasein von Individuen oder einer Gruppe politisch thematisiert wird – meist geht es darum, Anerkennung zu erkämpfen. Das Privateste – das eigene Intimleben – hat eben in Verhältnissen, in denen Sexualität immer noch normiert ist, eine dezidiert politische Dimension.
Im Jahre 1975 waren in den USA nicht-heterosexuelle Lebensmodelle zwar nicht mehr illegal, trotzdem aber alles andere als in der Öffentlichkeit wohlgelitten. Wenn Warhol nun in so einer Zeit in seiner Serie „Ladies und Gentlemen“ (meist farbige) Dragqueens aus den einschlägigen Nachtclubs in sein Studio holt, fotografiert und daraus bunte Siebdrucke erstellt, ist das ein entschieden politisches Statement. Denn Warhol lässt sie vor der Kamera so posieren, wie sie es wollen. Warhol, der selbst eine queere Sexualität lebte, und für den Selbstinszenierung zeitlebens ein Thema war, spiegelte sich in diesem Gegenüber.
„Eine pinke Camouflage ist natürlich alles andere als ein Tarnmuster, eher das Gegenteil: Sie ist leuchtend grell. Ein Widerspruch und postmodernes Spiel zwischen Zeichen und Aussage.“
Das Interessante an Warhol ist die Komplexität, die sich gerade in komplett unterschiedlichen Zugängen zu Themen zeigt. Wo „Ladies and Gentlemen“ sehr klar in der Aussage ist, wirkt die Arbeit „Camouflage“ aus dem Jahr 1983 eher geschlossen und kryptisch. Warhol, der sich immer auch sehr für Mode interessierte, bringt hier ein Camouflagemuster auf die Leinwand, bei dem jedoch eine Farbe – eine Art Neon-Orange-Pink – sehr grell leuchtet. Wenn man so will, ein Fashion-Statement, das den Militarylook, der später die Raveszene dominieren sollte, um über ein Jahrzehnt vorwegnimmt.
Aber in der Arbeit steckt noch mehr. Die Autorin Katja Eichinger ist eine intime Kennerin von Warhol und interpretiert in einem Gastbeitrag für das Museum Brandhorst „Camouflage“ eindeutig im queeren Kontext: „Pink unterläuft die militärische Ernsthaftigkeit des Camouflage und stellt damit die Macht des Militärs infrage. Der Soldat wird ‚camp‘. Und natürlich ist es auch ein Statement, das darauf Bezug nimmt, dass Schwule sich damals im Alltag noch oft verstecken mussten – und zum Teil auch heute noch müssen. Aber dann ist eine pinke Camouflage natürlich alles andere als ein Tarnmuster, eher das Gegenteil: Sie ist leuchtend grell. Ein Widerspruch und postmodernes Spiel zwischen Zeichen und Aussage.“
Warhols Interesse an sexuellen Identitäten jenseits der Norm zeigte sich nicht zuletzt auch in dem Personal, das er in seinem Studio, der Factory, versammelte. Viele lebten ein offen queeres und oft exzentrisches Leben. In den Fotografien, die der Künstler Richard Avedon in den 1970er-Jahren in der Factory machte oder den Filmaufnahmen von Michel Auder werden diese alternativen Lebensformen ausgestellt. Auch hier war Warhol seiner Zeit voraus. Die Vermischung von Privatleben und Kunstproduktion wurde später etwa vom Fotografen Wolfgang Tillmans fortgeführt, der in den 1990er-Jahren Mitglieder der Raveszene porträtierte (was, wie die Einblicke in die Factory ebenfalls in der Ausstellung „Forever Young“ zu sehen ist) und darin für sich die Utopie eines freien Kollektivs entdeckte. Das geschieht in direkter Verlängerung von Warhols Spiel mit Grenzen von Alltag und Kunst.
Eines der verstörendsten Bilder der Ausstellung „Forever Young“ ist Warhols Siebdruck-Malerei „Mustard Race Riot“ (1963). Es gehört zur Serie „Death and Desaster“, in der sich Warhol mit Zeitungsmeldungen beschäftigte, die damals die Medien beherrschten. Zu sehen sind weiße Polizisten, die mit Schlagstöcken und scharfen Hunden auf friedlich demonstrierende, schwarze Bürgerrechtler in einem Park in Birmingham, Alabama losgehen. Warhol montiert die Aufnahmen übereinander, wiederholt und potenziert damit die Gewalttätigkeit, das schmutzige Senfgelb des Bildes wirkt zusätzlich bedrückend. Warhol beschäftigt sich in dieser Arbeit mit vielerlei: etwa mit der Frage, welche Bilder öffentlich zirkulieren und welchen Effekt dies hat. Nicht zuletzt geht es Warhol aber auch darum, die offensichtliche Gewalt der Polizei in all ihrer Drastik darzustellen.
„Diese Pressebilder, die zuerst im Life Magazin zu sehen waren, hatten massiven Einfluss auf die Wahrnehmung der Anliegen der Bürgerrechtsbewegung in den USA“, sagt Patrizia Dander. „Warhol verfolgte das sehr wach.“ Das alles lenkte den Blick auf den grassierenden Rassismus in den USA – lange bevor dies in der Kunst salonfähig wurde. Wenn Jahrzehnte später der schwarze, aus dem Süden der USA stammende Künstler Arthur Jafa sein berühmtes Selbstporträt „Monster“ nennt (in der Ausstellung hängt es neben Warhols Arbeit), sich selbst darin als schwarzes Subjekt inszeniert, aber auch die anhaltende Diskriminierung durch die Zuschreibung „Monster“ klar benennt, geschieht das natürlich in einem ganz anderen Kontext: Jafa erlebte selbst rassistische Diskriminierung am eigenen Leib. Auch Warhol weiß als queerer Künstler, wie es ist, diskriminiert zu werden, arbeitet sich am Thema Rassismus aber theoretisch ab. Jafa verurteilt eindeutig, Warhol zeigt nur. Was beiden gemeinsam ist, dass sie sich auf ein Phänomen beziehen, das bis heute leider brandaktuell ist.
„Warhol war ausgebildeter Werbegrafiker und kannte die kapitalistische Bildwelt von der Pike auf. Seine erste Ausstellung war in einem Kaufhaus.“
Ein anderes ganz großes Thema von Warhol ist von nicht minderer gesellschaftspolitischer Brisanz: Seine Thematisierung von Geld und Warenfetisch – gerade im Kunstmarkt selbst. Dieser Komplex ist heute, wo jedes Jahr neue Rekordpreise für Kunst gezahlt werden und viele Arbeiten als Spekulationsobjekte in Safes auf zollfreiem Boden verschwinden, brisanter denn je. Warhol war elektrisiert vom Kunstmarkt. „Er war durch und durch fasziniert vom Kapitalismus“, sagt Patrizia Dander. „Er war ausgebildeter Werbegrafiker und kannte die kapitalistische Bildwelt von der Pike auf. Seine erste Kunstausstellung war in einem Kaufhaus.“
Die Auseinandersetzung mit dem Thema Wert zieht sich durch Warhols gesamtes Werk. Er machte aus Banknoten Siebdrucke und trieb bewusst die Preise für seine Arbeiten in die Höhe. „Ein Grund dafür, dass er dieses ganze Thema Kapitalismus so genau beobachtete, war natürlich der Kunstmarkt selbst“, sagt Dander. „Er erlebte in den 1950er-Jahren die Preisexplosion der abstrakten Expressionisten, also von Künstlern wie Jackson Pollock.“ An eine späte, im wahrsten Sinn des Wortes ätzende Auseinandersetzung mit der überaus erfolgreichen künstlerischen Vorgängergeneration macht sich Warhol im Jahr 1978.
Er fabriziert die Arbeit „Oxidation Painting“, besser bekannt als „Piss Painting“. Der Name ist Programm, denn was auf den ersten Blick wie eine abstrakt-expressionistische Arbeit aussieht, entstand durch Urin, den Warhol in minutiöser Kleinarbeit auf eine großformatige Fläche aus Kupferpulver aufgetragen hat. Das Werk ist natürlich ein bösartiger Kommentar: auf die einst gefeierten abstrakten Expressionisten, die ihr Innerstes in wilden Bewegungen auf die Leinwand wedelten – und auf den Kunstmarkt, der bis heute nur allzu bereit ist, für Ausscheidungen jeder Art Höchstpreise zu zahlen. „Aber trotz dieser Kommentare ist das ‚Oxidation Painting‘ eine sorgfältig konstruierte Arbeit, in der sich Warhol mit Komposition in der Abstraktion auseinandersetzt“, sagt Dander. „Und wieder einmal zeigt sich: Bei Warhol steckt immer so unendlich viel in jeder Arbeit.“
Diese Erkenntnis: dass in jeder Arbeit von Warhol so viel mehr steckt als das, was man sieht und zu sehen glaubt, dass der Mann mit der silbernen Perücke auch heute noch relevant und ausdeutbar ist – diese Erkenntnis ist dann doch überraschend.