Unsere Autorin konnte früher als Reisebloggerin ihren Entdeckungsdrang ausleben, zurück in München war immer Entspannung angesagt. Was sie dabei verpasst hat, holt sie in ihrer Kolumne nach. Diesmal stellt sie sich der Herausforderung, die Nacht zum Tag zu machen. Denn eigentlich ist sie in ihrem Freundeskreis dafür bekannt, bei Partys heimlich, still und leise als Erste zu verschwinden.
In meiner Clique werde ich augenzwinkernd „Anika Nachtleben Landsteiner“ genannt, sobald wir über Wochenendplanungen sprechen oder eine vergangene Party Revue passieren lassen. Dieser zweite Vorname ist eine ironische Anspielung darauf, dass ich seit Jahren Partys auf ihrem Höhepunkt verlasse, und das oft, indem ich mich davonschleiche: Ein Uhr nachts, die Bar ist voll, die Stimmung gut, doch in meinem Drink klirren nur noch die Reste von Eiswürfeln und ich bin müde. Da mache ich mich gerne aus dem Staub und dass ich mich nicht immer verabschiede, liegt daran, dass die meisten Leute mich überreden wollen zu bleiben.
Vielleicht liegt es an den vergangenen Pandemiejahren oder auch einfach an diesem extrem heißen Sommer, denn: Laue Nächte, die verleiten, noch ein bisschen länger zu bleiben, doch noch einmal anzustoßen, sich doch noch einmal auf die Tanzfläche ziehen zu lassen – das alles war in diesem Sommer in München besonders spürbar. Also habe ich mich der persönlichen Herausforderung gestellt, bis zum Sonnenaufgang feiern zu gehen. So, wie ich das mit Anfang zwanzig gemacht habe. Und ich will auch überprüfen, was die Stadt nachts zu bieten hat – denn wenn ich abenteuerlustig und neugierig unterwegs bin, dann ist das meist an einem Ort, den ich gerade entdecke und nicht der, den ich Zuhause nenne.
Im Hochsommer trifft man sich meist zuerst auf ein Bier am Stadtfluss. Besonders schön ist das, wenn der Tag heiß war, doch mit der Frische der rauschenden und kristallklaren Isar ein lauer Sommerabend anbricht.
Mit Fotograf Frank und meiner Freundin Kathy treffe ich mich an diesem Freitagabend um halb neun am Kiosk an der Reichenbachbrücke. Ich möchte den Abend so typisch wie möglich beginnen und wie alle Münchner*innen wissen, trifft man sich im Hochsommer meist zuerst auf ein Bier am Stadtfluss. Besonders schön ist das, wenn der Tag heiß war, doch mit der Frische der rauschenden und kristallklaren Isar ein lauer Sommerabend anbricht. Der Himmel ist durchzogen von pinkfarbenen Wolkenschleiern, als wir uns ans Flussbett setzen und erst einmal quatschen. Irgendwann meint Frank zu mir: „Anika, du hast zwei Sidekicks heute Abend dabei. Du kannst loslassen und wir unterstützen dich!" Ich muss lachen, weil er meinen Versuch so ernst nimmt, dann geben wir ein bisschen voreinander an, wie oft wir bereits ganze Nächte durchtanzt haben.
Danach steuern wir die Hotelbar des „The Flushing Meadows“ an, wo es im Winter schummrig-schön ist und im Sommer durch die geöffneten Türen zur Dachterrasse ein warmer Sommerwind weht. Natürlich findet sich in jeder Stadt ein hübsches Boutique-Hotel, doch was hier besonders ist, sind die elf Zimmer auf der dritten Etage, die in enger Zusammenarbeit mit Künstler*innen aus der ganzen Welt gestaltet wurden. Diese Detailverbliebtheit spiegelt sich auch in der Hotelbar wieder. Leise spielt Jazz im Hintergrund, wir setzen uns in ein Eck und bestellen eine Flasche Rosé. Nach ein paar Schlucken kippt Frank ganz spitzbübisch einen Eiswürfel aus dem Cooler in sein Glas. „Ist verpönt, aber mit dem Alter wird einem das egal“, meint er und ich tue es ihm gleich. Ein paar Minuten später kommen Tamara, Ulla und Buddhi dazu, letzterer hat seine Mitbewohnerin Nadja im Schlepptau.
Nun ist die Gruppe vollständig: der Altersunterschied spannt sich über zwanzig Jahre, doch alle verstehen sich auf Anhieb. Es ist halb elf, als die ersten einen kleinen Hunger verspüren und wir beschließen, der Pommes-Institution des Glockenbachviertels einen Besuch abzustatten: dem Bergwolf. Hier habe ich schon vor zehn Jahren in wilden Nächten eine verlässlich gute Portion über den Tresen geschoben bekommen. Heute Nacht bestellt Frank Pommes spezial – also mit rohen Zwiebeln und Mayo. Ich klaue mir eine, sie ist richtig knusprig.
Mit den Portionen auf der Hand wandern wir durchs nächtliche München und steuern auf das Unterdeck zu, einem Hybrid aus Bar und Club, den ich persönlich am meisten mag, denn man kann spontan tanzen, muss aber nicht stundenlang um eine Tanzfläche herumstehen, weil es keine Tische gibt. Das Unterdeck ist unprätentios – ein Laden, der immer funktioniert, wenn man einfach einen entspannten Abend haben möchte. An der Bar bestellt meine Freundin Ulla für uns zwei Liquid Cocaine und ich muss feststellen, dass ich den Drink noch nie probiert habe, obwohl er auf fast jeder Getränkekarte zu finden ist: Wodka, Espresso, Zucker, fertig ist ein extrem leckeres Getränk, das von nun an nicht mehr ignoriert wird.
Bei den Klängen von Caribou zieht es mich auf die Tanzfläche. Gemeinsam mit Ulla und Kathy stolpere ich durch einen dichten Nebel und lasse mich durch den Song treiben. Für einige Minuten vergesse ich Raum und Zeit, das liegt aber auch wirklich an der Nebelmaschine, mit der sie es etwas übertreiben. Wer Single ist und meint, man würde heutzutage niemanden mehr offline kennenlernen, könnte vielleicht mal die Tanzfläche im Unterdeck ausprobieren – das Ineinanderrumpeln gibt dem Begriff „Blind Date“ eine völlig neue Bedeutung.
Als wir zurück zu den anderen gehen, treffe ich eine Bekannte und Frank unterhält sich mit einem guten Freund, der plötzlich vor ihm stand. Das ist es, was ich am Münchner Nachtleben mag: Je länger man in dieser Millionenstadt lebt, desto öfter trifft man Leute und die dörfliche Atmosphäre, die München ausmacht, wird spürbar. Und auch, dass so viele Bars und Clubs fußläufig beeinander liegen. Denn am Tisch wird bereits über einer Runde Schnaps diskutiert, wohin es als nächstes geht: Karaoke-Bar? Oder doch noch was essen? Frank hat wieder Hunger und schlägt einen türkischen Imbiss am Sendlinger Tor vor. Als wir dort am Springbrunnen ankommen, greift Frank nach Nadjas Hand und die beiden rennen fix hindurch. Ich knipse ein Foto von dieser fabelhaften Unbeschwertheit, dann kehren wir mit Sprühregen im Haar ein.
Wir alle spüren einen kleinen Durchhänger. Frank schlägt deshalb vor, nun alles zu geben: ab ins Blitz. Und ich denke: Oh weia.
„Jetzt geht's ganz schnell, Anika! Nur noch ein Drink, dann geht die Sonne auf“, verkündet Frank über einem Teller Linsensuppe. Ganz selig schaue ich mich in dieser bunt gemischten Runde um. Alle sind gekommen, um mit mir zu feiern, und für einen Moment fühlt sich das an, als würde uns die Nacht gehören. Es ist nun kurz nach eins, vom Sonnenaufgang sind wir so weit entfernt wie vom gestrigen Sonnenuntergang und das ist leider der Moment, als Ulla und Tamara sich verabschieden. „Sie haben was von mir gelernt“, denke ich mit wehmütigem Stolz, „gehen, wenn's am schönsten ist.“
Frank, Nadja, Buddhi, Kathy und ich steuern zurück ins Glockenbachviertel. Für einen schnellen Drink schauen wir in der sympathischen Lola Bar vorbei. Ich mag es dort, weil das Durchschnittsalter bei Ende zwanzig bis Ende dreißig liegt und am Wochenende oft Funk und amerikanischer Hip Hop aus den 1990ern aufgelegt wird. Trotzdem spüren wir alle einen kleinen Durchhänger. Frank schlägt deshalb vor, nun alles zu geben: ab ins Blitz. Und ich denke: Oh weia. Das Blitz ist ein Techno-Club, dessen Soundanlage zu den besten Europas zählt und wo das Fotografieren verboten ist. Schneller als ich Nein sagen kann, bestellt Buddhi ein Taxi und Nadja, die eigentlich nach Hause gehen wollte, meint: „Ich komme mal mit und schaue mir die Schlange an.“ Ungläubig schüttele ich den Kopf über diesen Spirit of being 22. Beeindruckend.
Wenig später stehe ich ein bisschen verloren und sehr fasziniert mitten in der sich wie in Trance bewegenden Menschenmenge. Viele tragen Glitzer im Gesicht, einige Männer sind oberkörperfrei, alle fühlen den Rhythmus, der sie durch die Nacht trägt. Doch ich muss mir eingestehen, dass ich unter anderen Umständen wohl eher nicht ins Blitz gehen würde. Nicht, weil ich nicht glaube, dass das ein guter Club ist, nur ist es einfach nicht meiner. Mit Techno kann ich wenig anfangen und wie gut eine Soundanlage ist, ist mir um drei Uhr nachts auch ziemlich egal. Ich bestelle meinen letzten Drink für heute, einen Gin Tonic, und weiß: Gleich geht's nach Hause. Aber wirklich.
Als wir nach draußen gehen, dämmert es bereits. Es fühlt es sich ein bisschen so an, wie aus dem Hasenbau aus Alice im Wunderland zurück in die Realität zu klettern. Zuhause im Bett werfe ich noch einen Blick auf meine Notizen. „Jetzt nicht weinen“, habe ich irgendwann zwischen Liquid Cocaine und Linsensuppe in mein Handy getippt. Ich habe keine Ahnung, was damit gemeint ist, kann aber mit ziemlicher Sicherheit sagen: Geweint hätte ich, wenn überhaupt, nur Freudentränen. Denn es war eine der coolsten Nächte in diesem Jahr. Spontan, unterhaltsam, voller freundschaftlicher Wärme. Auch überraschend, weil ich festgestellt habe, wie gut und abwechslungsreich das Münchner Nachtleben ist. Deshalb weiß ich, dass ich diese letzten acht Stunden nicht bereuen werde, wenn ich später aufwache und mich ein unerträglicher Kater den Tag über begleiten wird.