Für die Reihe „Ich war noch niemals …“ besuchen unsere Autor*innen Orte in München, an denen sie noch nie waren – und das, obwohl sie seit Jahren oder sogar schon immer in der Stadt leben. Diesmal besucht Anika Landsteiner zum ersten Mal das Deutsche Theater.
Der New Yorker Broadway ist von Deutschland sehr weit entfernt. Die Londoner West End Shows auch. Hierzulande wird bei Musicals nämlich nicht selten die Nase gerümpft. Sie werden von vielen als zu laut, zu bunt und reizüberflutend empfunden. Sprich: Zu verkitscht für den deutschen Theatergänger, der Kleist, Goethe und Lessing gewohnt ist. Ich glaube, deshalb bin ich selbst schon immer voreingenommen, was Musicals angeht.
Über das Deutsche Theater wusste ich lediglich, dass es sich um ein traditionelles Musicalhaus handelt. Ich wusste allerdings nicht, dass sich die Spielstätte im belebten Bahnhofsviertel durch hochklassige, internationale Gastspiele auszeichnet. Da wurde ich neugierig. Ein bisschen Urlaub in der eigenen Stadt, ein bisschen internationale Bühnenluft schnuppern? Bei der Durchsicht des Programms fiel meine Wahl schnell auf das Musical Kinky Boots, das von der Londoner-West-End-Produktion für 12 Tage in München aufgeführt wurde.
An einem grauen Sonntagnachmittag klaubte ich mich vom Sofa auf und stiefelte in meinen Winterboots, an denen leider nichts kinky ist, Richtung Theater. Vollkommen baff staunte ich über die vielen Menschen, die sich bereits im schönen Innenhof auf das Musical einstimmten. So viel Andrang an einem Nachmittag? Als ich in der zweiten Reihe im großen Saal Platz nahm und mich umsah, stelle ich fest, dass die Vorstellung fast ausgebucht war.
Kinky Boots erzählt von Charlie Price, der die vom Ruin bedrohte Schuhfabrik seines Vaters erbt und sie mit einer ungewöhnlichen Idee retten will: Gemeinsam mit der Drag-Queen Lola beginnt er, extravagante und gleichzeitig hochwertige Stiefel für Drag-Performer zu produzieren. Die Uraufführung fand 2012 in Chicago statt, Musik und Songtexte stammen aus der Feder der Popikone Cindy Lauper. Ab 2013 wurde das Musical am Broadway aufgeführt und ausgezeichnet mit insgesamt 6 Tony Awards – den Oscars der amerikanischen Bühnenshows.
Über das Deutsche Theater wusste ich lediglich, dass es sich um ein traditionelles Musicalhaus handelt. Ich wusste allerdings nicht, dass sich die Spielstätte im belebten Bahnhofsviertel durch hochklassige, internationale Gastspiele auszeichnet.
Als es losgeht, werde ich sofort in die Welt von Charlie geworfen, der an der Aufgabe verzweifelt, die Schuhfabrik am Laufen zu halten, und dann in eine Drag Show stolpert. Die hohe Energie auf der Bühne reißt mich komplett mit, denn in jeder Ecke wird performt. Diese große Liebe zum Detail zeigt für mich die hohe Kunst der Darsteller*innen, denn wenn so viel gleichzeitig passiert, muss die Grundlage eine Mischung aus Struktur, Disziplin und Konzentration sein.
Wer mich mit seiner Performance komplett umhaut, ist Tosh Wanogho-Maud, der Drag-Queen Lola spielt. Er singt, tanzt und spielt auf höchstem Niveau, ist also ein Triple Threat: eine Bezeichnung für Darsteller*innen, die sehr stark in allen drei Disziplinen sind. Als er die Ballade Not my father’s son singt und ich in der zweiten Reihe die Tränen sehen kann, die ihm dabei über die Wangen rollen, geht mir seine Emotionalität richtig unter die Haut.
Nach 60 Minuten Spielzeit gibt es eine Pause, die ich dafür nutze, mir im Foyer eine Brezn zu schnappen und mich ein bisschen über das Haus zu informieren. Das Deutsche Theater ist nämlich das größte Gastspielhaus in Deutschland seit 1896! Gegründet wurde es unter der künstlerischen Leitung von Emil Meßthaler, der das Haus durch seine experimentierfreudigen Vermittlungsformate prägte. Es hat zwei Bühnen – den großen Theatersaal und den Silber- mit anschließendem Barocksaal, in dem kleinere Stücke, Konzerte und Lesungen stattfinden. Zur Faschingszeit verwandelt es sich übrigens in Münchens größtes Ballhaus. Ein vielfältiges Programm, das sich über einen langen Zeitraum hinweg aufgebaut hat, dem jedoch immer wieder Steine in den Weg gelegt wurden.
Ich empfinde Kinky Boots als ein Paradebeispiel der Musicalindustrie, weil es mit einem Wirbelwind aus verschiedenen Kunstformen den klassischen Bühnen die Ansage macht: „Jetzt erst recht!“
Mit den Auftritten von Karl Valentin wurde deutlich, wie stark das Museum kulturell in München verankert war. Doch Ende der 1920er wurde der amerikanischen Sängerin und Tänzerin Josephine Baker ein Auftrittsverbot erteilt, was die rassistische Stimmungsmache bereits vor der NS-Zeit markierte. Bühnenstar Baker war nämlich vor allem für ihren extravaganten Tanz bekannt. Ein halbnacktes, schwarzes Showgirl stellte bereits für konservative Gruppen den Inbegriff des Sittenverfalls dar.
Etwas später, in den 1930ern, durften schließlich keine jüdischen Autor*innen mehr engagiert werden, was zu einem massiven Bruch in der einst lebendigen Theaterkultur führte. Erst nach Kriegsende konnte sich München mit dem Deutschen Theater wieder als vielfältige Theaterstadt etablieren. 1961 eroberte zum ersten Mal ein Musical seine Bühne, und zwar kein geringeres als die West Side Story.
Nach der Pause drehen die Darsteller*innen von Kinky Boots noch einmal so richtig auf. Die Handlung steuert auf ihren Höhepunkt zu, denn Charlie und Lola zerstreiten sich und die Mitarbeitenden der Fabrik legen das Handwerk nieder. Diesen Moment braucht es natürlich, um eine klassische Heldenreise zu erzählen, welche für die meisten Musicals als Kernelement dient. Die Figuren in Kinky Boots entwickeln sich weiter, indem sie über den eigenen Schatten springen und beginnen, andere Lebensrealitäten zu respektieren. Denn wie ging gleich nochmal das Sprichwort mit den Stiefeln? „Gehe 100 Schritte in den Schuhen eines anderen, wenn du ihn verstehen willst.“ Oder so ähnlich. Bei Kinky Boots wird mehr getanzt als gelaufen, aber genau deshalb ist das Ende bunt, fulminant, frech und vor allem eins: queer.
Während der ganze Saal sich aus den Stühlen erhebt und lange applaudiert, legen die Darsteller*innen eine Flagge in den Farben der LGBTIQ*-Community auf der Bühne nieder. Mich flutet in diesem Augenblick eine große Dankbarkeit dafür, das Stück gesehen zu haben. Dass es noch immer aufgeführt werden darf, vielmehr, aufgeführt werden muss. Was für ein Appell an eine offene, empathie- und respektvolle Gesellschaft! Und gleichzeitig empfinde ich Kinky Boots als ein Paradebeispiel der Musicalindustrie selbst, weil es mit einem Wirbelwind aus verschiedenen Kunstformen den klassischen Bühnen die Ansage macht: „Jetzt erst recht!“