In München leben viele Schriftsteller*innen, die einen ganz besonderen Bezug zur Stadt haben. Unsere Redakteurin möchte wissen, welchen Einfluss München auf ihr Schaffen hat. Die Schauspielerin und Autorin Lea Ruckpaul nimmt uns mit ins traditionsreiche Café Ruffini, wo sie vom Balanceakt zwischen Schreiben und Spielen erzählt.
Bevor Lea Ruckpaul von sich und ihrer Arbeit erzählt, erzählt sie von Esther. Das ist ihre Vermieterin, die ihr das Café Ruffini empfohlen hat, wo wir nun sitzen und Cappuccino trinken. „Ich verbinde diesen Ort mit Esther, weil es eine riesige Freude ist, sich hier mit ihr zu unterhalten. Esther arbeitet an der Welt wie eine Verrückte, was mich so beeindruckt.“
Das passt gut zu diesem Ort, der in den 1970ern ein beliebter Treffpunkt für linke Köpfe war; eine bunte Gruppe aus Studierenden und Aktivist*innen gründete nämlich das Café Ruffini.
Auch Lea Ruckpaul arbeitet an der Welt, und zwar mittels ihrer Kunst. Seit 2023 gehört sie zum Ensemble des Residenztheaters: die Hauptspielstätte des Bayerischen Staatsschauspiels und unter Einheimischen liebevoll „das Resi“ genannt. 2024 hat Ruckpaul ihren Debütroman Bye Bye Lolita herausgebracht. Die Geschichte ist eine literarische Antwort auf den Klassiker von Nabokov, jedoch aus Sicht der Lolita.
Auf die Idee ist sie durch ihre Arbeit am Theater gekommen, weil sie schon so oft historische Frauenfiguren gespielt hat, die zwar im Mittelpunkt stehen, aber selbst nichts sagen dürfen. „Es wird oft nur über sie geredet. Dann stehe ich auf der Bühne, muss aber die Klappe halten. Diese Figuren habe ich schon immer versucht zu befreien.“ Dolores Hayes, wie Lolita eigentlich heißt, ist in Ruckpauls Roman erwachsen. Und das ist schon der erste Kniff, denn sie stirbt nicht so früh wie im Original, sondern sie lebt. Als Frau blickt sie nun darauf zurück, was ihr von Humbert Humbert angetan wurde: seine Taten, die seit Jahrzehnten im Kanon der Weltliteratur romantisiert werden.
„Wir müssen Geschichten erzählen, bis sie überwunden werden“ , sagt die Autorin und verweist damit auf die Verantwortung von Kunst und Kultur, wichtige Themen zu bearbeiten.
Für den Befreiungsschlag ihrer Figur musste Ruckpaul eine eigene Sprache finden. Dort wo Nabokov in poetischer Form Dolores' Körper beschreibt, findet Ruckpaul harte und schnörkellose Worte. „Ich habe versucht, mich anzunähern an eine Sprache über Gewalt. Außerdem hat er Dolores keine Tiefe gegeben, weshalb ich eine Gegenbewegung geschaffen habe.“ Um das zu schaffen, lag monatelang eine Ausgabe von Lolita auf ihrem Schreibtisch – und das eigene Manuskript daneben.
„Wir müssen Geschichten erzählen, bis sie überwunden werden“ , sagt die Autorin und verweist damit auf die Verantwortung von Kunst und Kultur, wichtige Themen zu bearbeiten. „Das kann lustig und leicht sein, aber auch unschön und schmerzhaft. Die Kunst ist da, um gesellschaftlichen Schmerz zu bearbeiten. Im Theater ist das auch so, da beschäftige ich mich gemeinsam mit dem Publikum mit einem Thema.“
Für ihre eindringliche Darstellung einer toughen Strafverteidigerin, die so lange hinter dem Rechtssystem steht, bis ihr selbst Unrecht angetan wird, wurde Ruckpaul mit einem der wichtigsten Preise ausgezeichnet: dem Therese-Giehse-Theaterpreis, der im Rahmen des Deutschen Schauspielpreises verliehen wird. Das Stück, Prima Facie, spielt sie komplett alleine, was eine extrem anstrengende Herausforderung ist. Ich frage sie, was sie für die Rolle braucht, und Ruckpaul antwortet: „Mut. Es gibt niemanden sonst auf der Bühne, den ich anspielen kann. Ich muss ganz alleine durchhalten. Das merke ich vor allem, wenn ich nicht fit bin.“
Apropos Bühne! Wie schätzt sie das Münchner Publikum ein? Schließlich hat Ruckpaul bereits in vielen deutschen Städten gespielt. Mit einem Lächeln sagt sie: „Neugierig und liebevoll zugewandt. Die Leute wirken meist, als würden sie ganz offen sein und schauen, was nun geboten wird.“ Gerade bei Prima Facie, das 2019 als Theaterfassung geschrieben wurde, spürt sie, dass das Publikum sich freut, zur Abwechslung mal nicht zu wissen, was als Nächstes passiert.
Wir verlassen das Café Ruffini und gehen am Nymphenburger Kanal entlang Richtung Schlosspark. Regen liegt in der Luft, es nieselt so zart, dass man die Tröpfchen kaum auf der Jacke erkennt, aber die Feuchtigkeit auf den Wangen spürt. Der Blick vom Kanal auf das Schloss ist von Bäumen gesäumt und wirkt deshalb zu jeder Jahreszeit anders gekleidet – heute, an einem dieser ersten kühlen Herbsttage, scheint die Natur sich bereits heimlich, still und leise zurückzuziehen. Mit ihrem Hund Iggy geht die Autorin oft im Schlosspark spazieren. „Am liebsten im hinteren Teil, der ist so wild, was man gar nicht erwartet“ , meint sie.
„Als Schauspielerin zieht man ja ständig um, aber in München bin ich richtig angekommen. Ich fahre mit dem Rad herum und denke mir oft: Ist das schön.“
Verblüfft war sie auch das erste Mal an der Isar. „Ein richtiger Urlaubsfluss!“, sagt Ruckpaul und lacht, überhaupt fühlt sich die 38-Jährige in München immer ein bisschen wie im Urlaub, selbst wenn sie viel arbeitet. „Als Schauspielerin zieht man ja ständig um, aber in München bin ich richtig angekommen. Ich fahre mit dem Rad herum und denke mir oft: Ist das schön.“ Auch die Menschen mag sie bisher sehr, nicht nur ihre nette Vermieterin, sondern mindestens auch den Nachbarn, dessen Markise von ihrem Umzugswagen aus Versehen abgerissen wurde. Der habe das sehr locker genommen, erzählt sie. Freundlichkeit ist wohl das schönste Willkommensgeschenk in einem neuen Viertel.
Zum Abschied frage ich die Künstlerin, wo sie gerade mehr Zeit verbringt, auf der Bühne oder am Schreibtisch? „Ich habe eine Hürde gespürt bezüglich des nächsten Romans. Aber jetzt schreibe ich wieder. Eigentlich kann ich das Schreiben und Spielen gut trennen, derzeit muss ich allerdings so viel Text lernen, dass es schwer ist, gleichzeitig selbst einen zu verfassen. Man kann sich schnell in einem anderen Stoff verlieren.“
Bis der nächste Roman erscheint, kann man Lea Ruckpaul in der Rolle der Tessa Ensler in Prima Facie oder als Julia Capulet in Romeo & Julia sehen. Zwei unterschiedliche Frauenfiguren die eine Sache gemein haben: das Leben in einer patriarchalen Struktur. Genauso wie die Schauspielerin selbst, die sich mit Mut und Empathie frei spielt. Und dann frei schreibt.