Karge Felsen, wilde Bergwälder und ein Märchenschloss: Bei der Durchquerung der Ammergauer Alpen erwarten Wander-Fans alles, was eine abwechslungsreiche Alpentour ausmacht – ohne dass er ein einziges Mal ins Tal absteigen muss. Freitagnachmittag los, Sonntagabend zurück – die perfekte Tour für ein einsames Wochenende in den Münchner Hausbergen.
Es ist noch dunkel, als ich auf einem Schotterpfad durch das schmale Tal wandere. Neben mir ragen schemenhaft steile Kalkfelsen in den Morgenhimmel, der blasse Mond schimmert zwischen dunklen Fichten. Außer dem Rauschen eines Gebirgsbaches und dem Zwitschern der ersten Vögel ist in dieser verlassenen Bergwelt nichts zu hören. Es ist fünf Uhr morgens, ich bin mit meinem Begleiter auf dem Weg zur Hochplatte, dem höchsten Gipfel meiner knapp dreitägigen Durchquerung der Ammergauer Alpen. Heute ist der längste und härteste Tag der Wanderung: Aufstieg zur 2000 Meter hohen Hochplatte, weiter zum Gipfel der Krähe und dann der Abstieg über den Tegelberg zum Alpsee. Dort möchte ich ins Wasser springen, zwei Halbe trinken und mit dem Zug zurück nach München rollen. Mal schauen, ob ich so weit komme.
Mit meiner Wanderlust bin ich nicht alleine: Rund sieben Millionen Deutsche gaben 2019 an, in ihrer Freizeit häufig wandern zu gehen. Und viele wollen mehr erleben als eine Tagestour: Inzwischen zieht sich ein rund 60.000 Kilometer langes Netz aus Fernwanderwegen durch den europäischen Kontinent – von Süditalien ans Nordkap, den Niederlanden nach Polen und der Türkei bis nach Spanien. So weit müssen Wanderfans aus München nicht fahren, um eine abwechslungsreiche Mehrtagestour zu finden: Die Ammergauer Alpen sind von der Landeshauptstadt zwei Stunden mit der Bahn entfernt – Weitwandern mit Zuganschluss. Und mit dem besonderen Reiz mehrtägiger Wanderungen: Die An- und Abreise ist entzerrter, man legt größere Strecken zurück und kommt dadurch in einsamere Gegenden. Außerdem wird mit jedem Tag in der Natur das Wandererlebnis intensiver.
„Mit dem Wind ändert sich die Landschaft im Minutentakt: Bergkuppen verschwinden hinter Nebelschwaden, Fichten und Bergkiefern zeichnen bizarre Formen in den grauen Himmel, und immer wieder geben die aufreißenden Wolken den Blick frei auf die Gipfel des Ammer- und Wettersteingebirges. Außer uns ist kaum jemand unterwegs.“
Meine Tour begann vor zwei Wandertagen, östlich der Hochplatte in der Schleifmühlklamm bei Unterammergau. Später Nachmittag, um mich herum das pralle Leben: Ein Bach springt in Kaskaden über hohe Felsvorsprünge, bildet tiefe Becken unter sprudelnden Wasserfällen und schlängelt sich um einzelne Felsblöcke. Farn bedeckt die Felswände, bemooste Buchen und Fichten krallen ihre Wurzeln in den kargen Boden. Kurz hinter der Klamm weitet sich das Tal, der Fichtenwald wird lichter; auf Almwiesen Farbteppiche aus Sumpfdotterblumen, Orchideen und Vergissmeinnicht. Zwischen den Bäumen, oben auf dem Pürschling, mein Tagesziel: das August-Schuster-Haus.
Nach knapp zwei Stunden sind wir dort, ich schüttle mir den Staub von den Kleidern, stelle die Wanderschuhe in den Hausflur und betrete die Stube. An den Wänden hängt ein ausgestopfter Fasan, auf den Holztischen liegen Deckchen mit Blumengestecken. Ich setze mich erschöpft auf die lange Eckbank, die sich an der Wand entlangzieht. Ein paar Kinder rennen durch die Stube, unter einem Tisch döst ein Schäferhund. Die Panoramascheibe auf der Rückseite der Hütte gibt den Blick frei auf die Kreuzspitze und den Kuchelberg, die sich scharfkantig in den Abendhimmel erheben. In der Ferne blitzt die Zugspitze durch die Wolken und unten im Tal fließt der Oberlauf der Ammer durch dichte Wälder, vorbei an Linderhof, dem prunkvollen Schloss des Märchenkönigs Ludwig II.
„Willst no was essen?“ Eine tiefe Stimme reißt mich aus meinen Abendträumen. Die Stimme gehört Hubert Spindler, Hüttenwirt des August-Schuster-Hauses. Seit 1989 arbeitet er hier oben, erst als Mechaniker und Aushilfe; seit zehn Jahren führt er gemeinsam mit seiner Frau die Hütte des Deutschen Alpenvereins. Es ist kurz vor halb sieben, letzte Chance auf eine warme Mahlzeit. Hubert stützt sich auf der Theke ab und schaut mich fragend an. Klar, Essen ist immer gut, Leberkäse wäre fein. Spindler nickt. „Sehr guade Wahl“, sagt er und verschwindet in der Küche. Nach dem Essen habe ich wieder Energie und wandere auf den 1758 Meter hohen Teufelstättkopf, einen kleinen Gipfel, nur eine halbe Stunde von der Hütte entfernt. Auf dem Rückweg regnet es leicht, im Licht der untergehenden Sonne spannt sich ein Regenbogen von der Ammer über die Berggipfel bis ins Nachbartal. So kann die Wanderung gerne weitergehen.
Die Tour über die Ammergauer Alpen führt durch zwei der bedeutendsten touristischen Regionen Bayerns: Das Wettersteingebirge mit den höchsten Gipfeln Deutschlands und das Allgäu mit seinen Schlössern und Seen. Wer diese beiden stark frequentierten Regionen zu Fuß verbindet, bewegt sich fernab der Zivilisation: Keine Verkehrsstraße kreuzt in den zweieinhalb Tagen den Wanderpfad – der Weg führt über Gipfel und Bergsättel in Hochtäler und Waldgebiete durch kaum berührte Landschaften. Der Großteil dieser dünn besiedelten Gegend gehört zum Naturschutzgebiet Ammergebirge, mit 288 Quadratkilometern das größte Naturschutzgebiet in Bayern. Die Region ist von München aus gut zu erreichen: Vom Hauptbahnhof fährt der Zug in weniger als zwei Stunden nach Unterammergau; zurück von Hohenschwangau nach München dauert die Fahrt vierzig Minuten länger.
Am nächsten Morgen führt der Pfad steil bergauf zu einem schmalen Grat. Die Wolken hängen tief zwischen den Bergen, ein leichter Wind treibt dichten Nebel vor sich her. Mit dem Wind ändert sich die Landschaft im Minutentakt: Bergkuppen verschwinden hinter Nebelschwaden, Fichten und Bergkiefern zeichnen bizarre Formen in den grauen Himmel, und immer wieder geben die aufreißenden Wolken den Blick frei auf die Gipfel des Ammer- und Wettersteingebirges. Außer uns ist kaum jemand unterwegs. Erst nach knapp drei Stunden begegnet uns ein junges Ehepaar mit schweren Rucksäcken. Die beiden gehen auf dem Europäischen Fernwanderweg E4, der sich auch durch die Ammergauer Alpen schlängelt, von den Pyrenäen bis zum Neusiedler See. Wie weit es noch zum August-Schuster-Haus ist, wollen sie wissen. Drei Stunden? Wunderbar! Besten Dank, frohes Weiterwandern! Dann verschwindet das Pärchen mit den großen Rucksäcken, und das einzige Geräusch ist wieder das Knirschen meiner Schuhsohlen auf dem losen Gestein und der lang gezogene Ruf eines Schwarzspechts in der Ferne.
Den Rest des Tages wandern wir über steile Pfade im Zickzack durch das Wintertal und über breite Geröllhalden auf die Klammspitze. Von dort geht es weiter über einen lang gezogenen Grat nach Westen zum Feigenkopf und dem Bäckenalmsattel. Immer wieder bleibe ich stehen und blicke auf die Landschaft um mich herum: Zartgrüne Wiesen gehen in jäh aufsteigende Felswände über, Schneefelder schmiegen sich in die Täler massiver Kalksteinberge, eine Gämse springt auf und pfeift laut, um ihre Artgenossen zu warnen. Weit über uns schraubt sich ein Steinadler in der Thermik immer höher in den Nachmittagshimmel. In der Ebene liegt ruhig der Forggensee, ein leichter Wind trocknet mir den Schweiß von der Stirn. Am späten Nachmittag kommen wir an der Kenzenhütte an, essen kurz und gehen ins Bett. Morgen ist der große Tag.
„Wir gehen durch ein kleines Hochtal am Ostrücken der Hochplatte durch die noch dunkle Landschaft, begleitet vom Mond und dem Rauschen des Baches. Und während die Strahlen der Sonne langsam die kargen Kalkwände der umliegenden Berghänge erhellen, öffnet der Enzian seine Blüten und verströmt seinen eigentümlich süßlichen Geruch.“
Meine Glieder sind noch steif, als das Handy uns um kurz nach vier weckt. Der Körper sträubt sich gegen die frühe Uhrzeit, in der rechten Wade kündigt ein Ziehen den ersten Muskelkater der Wanderung an. „Ohne Schmerzen keine Freude“, sagt mein Begleiter aufmunternd. „Hm“, erwidere ich und versuche den Muskelkater und den penetranten Geruch zu ignorieren, den meine Wanderschuhe verströmen. Immerhin sind wir leicht unterwegs: Im Rucksack ist nur Wechselwäsche, ein warmer Pullover, Kamera, Snacks und Brot mit Speck fürs Frühstück – das gibt's später auf der Hochplatte. Außerdem wartet das schönste Bergerlebnis auf uns, das man nur hier oben erleben kann: das erste Licht der Sonne, das die Felshänge der Gipfel erreicht und die Berge aussehen lässt, als würden sie in Flammen stehen.
Wir gehen durch ein kleines Hochtal am Ostrücken der Hochplatte durch die noch dunkle Landschaft, begleitet vom Mond und dem Rauschen des Baches. Und während die Strahlen der Sonne langsam die kargen Kalkwände der umliegenden Berghänge erhellen, öffnet der Enzian seine Blüten und verströmt seinen eigentümlich süßlichen Geruch. Zwei Stunden nach Sonnenaufgang stehen wir auf dem Gipfel und genießen den schönsten Ausblick der Ammergauer Alpenquerung: Von der Hochplatte blicke ich zum Wettersteingebirge, das sich in schier endlosen Ketten staffelt, vor mir liegt das Alpenvorland mit kleinen, blauen Farbtupfern; Seen, die sich in die Landschaft schmiegen, dazwischen goldgelbe Kornfelder. Vom Tal dringt das dumpfe Läuten mehrerer Kuhglocken herauf, über mir krächzt eine Dohle auf dem Gipfelkreuz.
Nach einem ausgiebigen Frühstück auf der Hochplatte führt der Pfad über einen aussichtsreichen Grat zum Gipfel der Krähe und weiter Richtung Tegelberg. Von hier steigen wir ab ins Land des Märchenkönigs; schon bald schimmert im Tal Neuschwanstein durch die Baumwipfel. Bald wird das Schloss größer, werden die Menschen zahlreicher. Über die Marienbrücke wandern wir weiter bis nach Hohenschwangau zum eigentlichen Ziel unserer Wanderung: dem Alpsee. Ruhig liegt er vor mir, das Wasser durchsichtig blau und kristallklar. Ich ziehe meine Wanderschuhe aus, springe ins Wasser und tauche ein. Dann lasse ich mich treiben und blicke zurück zu den Bergen. Irgendwo dort hinten liegen die Schleifmühlklamm mit den bemoosten Buchen und dem wilden Fluss, die bizarren Berggipfel im Nebel, der Regenbogen und die Hochplatte mit der wundervollen Aussicht. Alles Stoff, aus dem Märchen entstanden sind.
Was jetzt noch fehlt zum glücklichen Ende? Die zwei Halben. Aber die sollten auch noch zu finden sein, bevor es zurückgeht ins wirkliche Leben.
Start: Unterammergau
Ziel: Hohenschwangau
Dauer: 2,5 Tage
Höhenmeter: 2500
Anreise (Zug): ca. 1:40 Stunden (München–Murnau–Unterammergau)
Abreise (Zug): ca. 2:20 Stunden (Hohenschwangau–Füssen–München)
Etappen:
Tag 1: Bahnhof Unterammergau bis August-Schuster-Haus (2 Stunden)
Tag 2: August-Schuster-Haus bis Kenzenhütte (8 Stunden)
Einkehrmöglichkeit: Brunnenkopfhäuser
Tag 3: Kenzenhütte bis Hohenschwangau (über Hochplatte) (8 Stunden)
Einkehrmöglichkeit: Tegelberghaus