Das Bayerische Nationalmuseum in München besitzt die künstlerisch wertvollste und umfangreichste Krippensammlung der Welt. Gezeigt werden vor allem Weihnachtsszenen, die im Alpenraum und in den Krippenzentren Italiens in der Zeit zwischen 1700 und 1900 geschaffen wurden. Der Kurator der Sammlung, Thomas Schindler, macht bei seinen Führungen gerne auf die vielen überraschenden und lustigen Details aufmerksam. Ein Interview.
Thomas Schindler leitet seit 2016 das Referat Volkskunde im Bayerischen Nationalmuseum. Er betreut dort die Spezialsammlung zur historischen Alltagskultur. Dazu zählen Keramik, Möbel, Glas, Spielzeuge, Arbeitsgeräte, Zunftaltertümer, Objekte der Rechtsgeschichte und auch die religiöse Volkskunst. Schindler ist damit auch der Experte für die weltberühmte Krippensammlung mit ihren rund 6.000 Figuren und etwa 20.000 Teilen wie Gebäude, Mobiliar, Krippenhintergründe und Pflanzen. Die Krippenschau ist ein echtes Highlight, ganz besonders in der Vorweihnachtszeit.
Herr Schindler, ich falle gleich mal mit der Tür ins Haus, bei diesem riesigen Angebot: Haben Sie eine Lieblingskrippe?
Meine Lieblingskrippe in unserer Dauerausstellung ist die mehr als tausend Figuren und Zubehörteile umfassende Papierkrippe aus Böhmen, die ein Elfenbeinschnitzer nebenbei angefertigt hat. Sie überrascht mit lebhaften Einzelmotiven und humorvollen Anspielungen.
Humor in der Weihnachtsgeschichte von Bethlehem? Das erwartet man eigentlich weniger ...
Die humorvollen Anspielungen waren als Anreiz für Kinder gedacht, damit sie sich die Krippe besonders genau anschauen. In vielen Krippen wurde etwas Lustiges versteckt, wonach die Kleinen gerne suchen. In Neapel ist es der „Caccone“, ein Mann, der irgendwo gebückt sein Geschäft verrichtet. Bei den Münchner Krippen ist es oft ein Hund, der einen Haufen macht und bei der Böhmischen Papierkrippe sind es die Kühe, die ihre Fladen absetzen. Das mag ein bisschen derb erscheinen, galt aber als natürlicher Vorgang und als solcher nicht als despektierlich. Das Kind, das die Figur zuerst fand, erhielt ein kleines Geschenk, und das Glück war ihm für das ganze darauf folgende Jahr sicher.
Die humorvollen Anspielungen waren als Anreiz für Kinder gedacht, damit sie sich die Krippe besonders genau anschauen. In vielen Krippen wurde etwas Lustiges versteckt, wonach die Kleinen gerne suchen.
Die Figuren-Suche bereitet Kindern und Erwachsenen sicher heute noch genauso viel Freude. Wie kam denn eine so umfangreiche Sammlung überhaupt in den Besitz den Bayerischen Nationalmuseums?
Die weitaus meisten Krippen stammen aus Schenkungen des Münchener Bankiers und Geschäftsmanns Max Schmederer (1854-1917). Er war ein leidenschaftlicher Sammler. Zunächst konnten die Münchner seine Krippen einmal im Jahr in seinem Privathaus bewundern. Mit der Eröffnung des Museumsneubaus in der Prinzregentenstraße im Jahr 1900 stellte man ihm über 500 Quadratmeter für seine Krippensammlung zur Verfügung. Schmederer bestimmte weitgehend selbst über die Art der Präsentation.
Das zeugt von großem Selbstbewusstsein!
Das kann man wohl sagen, aber auf diese Weise hat er richtig etwas erreicht für die Krippensammlung. Schmederer war einer, der auf die Menschen zuging. Er verschaffte dem Museum die richtige Publicity, indem er Imagefotos von sich fertigen ließ und diese zusammen mit der Nachricht von der Krippensammlung in alle Welt schickte.
Die Weltpresse war begeistert! Bis nach Brasilien drang die Kunde von der Neueröffnung in München. Auch ließ er es sich nicht nehmen, Gäste des bayerischen Prinzregenten, wie zum Beispiel auch das deutsche Kaiserpaar, persönlich durch die Sammlung zu führen.
Auch ließ Schmederer es sich nicht nehmen, Gäste des bayerischen Prinzregenten, wie zum Beispiel auch das deutsche Kaiserpaar, persönlich durch die Sammlung zu führen.
Woher bezog Schmederer die Krippen?
Seine Sammlung begann mit dem Erwerb von Krippenfiguren, die ursprünglich aus den Münchner Klöstern stammten. Später kamen dann auch alpenländische Krippen aus Bayern und Österreich dazu.
In Italien hatte sich Schmederer ein hervorragendes Netzwerk an Antiquitätenhändlern aufgebaut. Da er sehr vermögend war, war er ein begehrter Kunde und erfuhr schon einmal als Erster, wenn etwas Besonderes zum Verkauf stand, wie zum Beispiel die Krippe aus dem Nachlass der vormals königlichen Familie von Neapel-Sizilien – bis heute ein Glanzstück der Sammlung.
Krippen waren also ein Privileg der Kirchen, Klöster und Paläste?
Ja, Krippen waren noch bis ins 19. Jahrhundert nur in Kirchen, Klöstern oder Adelspalästen aufgebaut – der einfachen Bevölkerung fehlten die Mittel hierzu. Erst mit der Säkularisation und der Auflösung der Klöster- und Kirchenvermögen gelangten Krippen auch in bürgerlichen Besitz. Dass Krippen in vielen – zunächst nur katholischen – Privathaushalten standen, ist ein Phänomen, das erst nach 1900 mit der industriellen Herstellung von Krippenfiguren einsetzte.
Dass Krippen in vielen – zunächst nur katholischen – Privathaushalten standen, ist ein Phänomen, das erst nach 1900 mit der industriellen Herstellung von Krippenfiguren einsetzte.
Wie unterscheiden sich denn die neapolitanischen Krippen beispielsweise von den bayerischen?
Aus Italien, genauer aus Neapel, stammen die schönsten und abwechslungsreichsten Figuren und Inszenierungen des 18. Jahrhunderts. Im Unterschied zu diesen Gliederpuppen mit atemberaubend natürlichen Gesichtern, aufwändiger Kleidung und pfiffigen Accessoires herrschten in Bayern Holzfiguren mit Wachsköpfen und Wachextremitäten vor, die auch sehr schön, aber handwerklich und künstlerisch weniger überzeugend sind.
Die italienischen Figuren sind also besonders detailreich gearbeitet?
Ja, bei den neapolitanischen Krippen gibt es sogar eine Bezeichnung für die besonders liebevolle Form der Ausstattung: die „Finimenti“. Das bedeutet, die Figuren werden bis in die kleinsten Details so gestaltet, dass sie sehr lebensnah erscheinen, wie der neapolitanische Schlachter inmitten von Schweinehälften und Wurstketten.
In einer anderen Szene sehen wir auf einem gedeckten Tisch winzige Teller mit „Spaghetti al nero di seppia“, und unter dem Tisch entdecken wir eine Katze, die darauf lauert, dass etwas für sie abfällt. Dann gibt es charakteristische Typen, wie zum Beispiel die vornehme Dame, die an ihren zahlreichen Broschen, Ketten und Armbändern zu erkennen ist. Ihr Gegenspieler ist der arme Fischer. Sein Hemd und seine Hose sind zerrissen und er raucht die landestypische langstielige Pfeife.
Gibt es auch Besonderheiten der Münchner Krippen?
Bei den Münchner Krippen tauchen Tiere oder Tiergruppen auf, die wir sonst so gar nicht von Krippen kennen, wie zum Beispiel kämpfende Stiere oder auch Fische zur Illustration der Flucht nach Ägypten. Auch gänzlich behaarte Menschen und ein Fantasiewesen namens „Sukkurath“ werden hier zu einem Teil der Weihnachtsgeschichte.
Noch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war das angeblich aus Patagonien stammende Faultier in Brehms Tierleben abgebildet, dabei hat es dieses Tier nie gegeben. Man geht davon aus, dass sich die Münchner Krippenkünstler bei ihrer Arbeit von den Tierlexika ihrer Zeit inspirieren ließen.
Stellen Sie auch moderne Krippen aus?
Ja, sicher. Sie sind bei den Besuchern besonders beliebt. In den 1970er-Jahren erhielt das Museum Krippen bedeutender zeitgenössischer Künstler wie Walter Tafelmeier, Rupert Stöckl und Anton Hiller.
Schauen Sie sich mal die über acht Meter breite Krippe des bekannten Münchner Grafikers Walter Tafelmeier an, die er Ende der 1960er-Jahre für den Bayerischen Rundfunk gefertigt hat. Erinnert Sie das nicht auch ganz stark an das Beatles Plattencover von Yellow Submarine?
Wow! Tatsächlich!
Auch eine Krippe des gegenwärtig innovativsten deutschen Krippenkünstlers, Rudi Bannwarth, haben wir vor wenigen Jahren hinzubekommen. Das Besondere an dieser Krippe ist, dass sich der Künstler sozialkritisch positioniert und seine Haltung in eine fast comicartige Ästhetik zu übersetzen versteht. Wir zeigten sie zusammen mit anderen modernen Krippen im Rahmen der Sonderausstellung Crazy Christmas vom 26. Oktober 2023 bis zum 28. Januar 2024.
Vielen Dank für das interessante Gespräch, Herr Schindler!
Tipp: Eine Übersicht über weitere Krippenschauen in der Weihnachtszeit und über Krippen in den Münchner Kirchen finden Sie hier.